Die Zahl der antisemitischen Vorfälle in Deutschland ist in die Höhe geschnellt, sagt die neueste Statistik zum Thema. Nur eine Zahl? Nicht für Beatrice Loeb. Ihr Jüdischsein sei zu einer Belastung im Alltag geworden, erzählt die Berlinerin.

Mehr News zur Innenpolitik

8.627 antisemitische Vorfälle hat der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) 2024 erfasst. 77 Prozent mehr als 2023 und so viele wie nie zuvor. So geht es aus dem Jahresbericht hervor, den der Verein am Mittwoch vorgestellt hat.

© dpa/Grafik: F. Bökelmann, Redaktion: J. Schneider

Die drastischsten der von RIAS gezählten Vorfälle – acht Fälle extremer Gewalt sind darunter – haben in der Öffentlichkeit viel Aufmerksamkeit erfahren. Etwa der Messeranschlag von Solingen, die Attacke eines mutmaßlichen Islamisten auf das israelische Generalkonsulat und ein NS-Dokumentationszentrum in München. Oder der Angriff eines Berliner Studenten auf einen jüdischen Kommilitonen vor einer Bar.

Doch die allermeisten Vorfälle bleiben unter dem Radar: 186 Angriffe, 443 gezielte Sachbeschädigungen, 300 Fälle von Bedrohung und 7.514 Vorfälle von "verletzendem Verhalten": Versammlungen, bei denen antisemitische Äußerungen getätigt wurden, Sprüche auf der Straße, Schmierereien und Aufkleber, Kommentare in sozialen Netzwerken.

RIAS-Expertin: "Krieg in Gaza motiviert zu Antisemitismus"

Um ein paar Beispiele zu nennen: In Kiel haben Unbekannte in der ganzen Stadt Aufkleber verteilt, die dazu aufriefen, "Zionisten mal zu Hause zu besuchen" – daneben reale Adressen von Jüdinnen und Juden. In Weimar wurden Stolpersteine mit Säure beschädigt und mit den Worten "Juden sind Täter" beschmiert. In Schwerin sagte laut RIAS ein Taxifahrer zu seinem Fahrgast, der Vermieter seiner Tochter sei Jude und Israeli, kein Wunder also, dass die Miete so hoch sei. In München schrie ein Mann dem Inhaber eines Geschäfts, das die "Jüdische Allgemeine" im Schaufenster hatte, ins Gesicht: "Ich schlachte deine tote Mutter ab, und dich dann auch."

Jahresbericht Antisemitische Vorfälle
Präsentation des Jahresberichts antisemitische Vorfälle: Ron Dekel, Präsident der Jüdischen Studierendenunion, Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland, Bianca Loy, wissenschaftliche Referentin beim Bundesverband RIAS e.V. und dessen Vorstand Benjamin Steinitz am Mittwoch in der Bundespressekonferenz. © dpa / Michael Kappeler/dpa

Die überwiegende Zahl der Vorfälle fallen in die Kategorie israelbezogener Antisemitismus, mit 5.857 mehr als doppelt so viele wie 2023. "Die Gefahr, als Jude und Jüdin in Deutschland angefeindet zu werden, hat sich seit dem 7. Oktober objektiv erhöht", sagte der RIAS-Vorstand Benjamin Steinitz in der Bundespressekonferenz. "Der Krieg in Gaza motiviert Menschen zu Antisemitismus", formulierte es seine Mitarbeiterin Bianca Loy. Unter israelbezogenem Antisemitismus verstehen sie, wenn der Staat Israel dämonisiert und sein Existenzrecht bestritten wird oder wenn Jüdinnen und Juden in Deutschland für Handlungen der israelischen Regierung in Haftung genommen werden.

Deutsche Juden müssen sich für Israels Regierung rechtfertigen

Gerade Letzteres erlebt Beatrice Loeb sehr häufig. "Man wird immer wieder persönlich für das in Haftung genommen, was die israelische Regierung tut. Da heißt es dann: Was macht denn eigentlich Ihre Armee da in Gaza? Als wäre ich Mitarbeiterin der israelischen Botschaft oder so", sagt die 53-jährige Berlinerin im Gespräch mit unserer Redaktion. "Das geht mir so, das geht meinen Kindern so. Sobald die Leute mitbekommen, dass man jüdisch ist, muss man sich für den Krieg in Gaza rechtfertigen." Sie habe sich darüber sogar schon mit Freunden entzweit.

Früher habe sie ihr Jüdischsein als selbstverständlich empfunden, als etwas, das sich einfach in ihren Alltag einfügt. "Jetzt ist es zu einer Ich-muss-ständig-darüber-nachdenken-Belastung geworden."

Loeb ist nicht nur praktizierende Jüdin, sondern engagiert sich auch im Vorstand der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Berlin, war mehrere Jahre in der Synagoge Pestalozzistraße aktiv, hat ein großes Netzwerk. Es sei nicht nur so, dass man in Deutschland heute zwar "bewusst Kopftuch, aber nicht mal auf dem Kudamm bewusst Kippa tragen" könne, sagt sie: Angst und ständiger Rechtfertigungsdruck führten dazu, dass viele Jüdinnen und Juden weniger über ihre Religion sprechen und sich vermehrt in jüdischen Kreisen bewegen.

Mehr Antisemitismus an Schulen und Unis

Loebs Töchter studieren in Wien und Weimar. Gerade an den Hochschulen habe sich die Stimmung mit der Eskalation in Nahost verändert. "Da geht es nicht nur um die Frage, ob man Davidstern oder Kippa tragen kann, sondern darum, ob man als normaler Student ständig Stellung beziehen, ständig seine Identität verteidigen will. Wenn man täglich an einem Gaza-Protestcamp vorbei muss, geht man irgendwann vielleicht lieber gar nicht mehr zur Uni."

Eben erst habe sie einen Flyer einer linksradikalen Gruppe einer Berliner Uni in der Hand gehalten. "Da steht nicht 'free Gaza', sondern 'free Palastine' und Israel wird der Tod gewünscht, nicht etwa den Terroristen der Hamas. Das soll Kampf gegen Rechtsextremismus sein?"

Auch RIAS sieht die Hochschulen im Fokus: Die Zahl antisemitischer Vorfälle dort habe sich im Vergleich zu 2023 nahezu verdreifacht auf 450 in 56 deutschen Städten. Ebenso gingen die Zahlen an Schulen nach oben: Von 86 Vorfällen 2022 auf 284 im vergangenen Jahr (2023: 255).

Gesamtgesellschaftliche Aufgabe

RIAS erfasst öffentlich dokumentierte Vorfälle, aber auch solche, die Betroffene oder Zeugen persönlich melden. Die Daten hängen also auch davon ab, wie viele Menschen aktiv werden. Ein Abgleich mit der Kriminalstatistik erfolgt nicht.

Der Befund deckt sich aber: Die Zahl polizeilich erfasster antisemitischer Straftaten war 2023 deutlich und 2024 noch einmal auf ein neues Hoch gestiegen. Gemeldete Vorfälle würden von Mitarbeitern nach einem bundesweit einheitlichen, wissenschaftlichen Standards genügendem Verfahren verifiziert, wehrte sich Steinitz gegen den Vorwurf "undurchsichtiger Methoden". Den hatte der deutsch-israelischen Journalist Itay Mashiach im Namen der "Diaspora Alliance" vor wenigen Tagen erhoben.

Der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, nannte den Jahresbericht "beschämend" und forderte Länder, Kommunen, Verbände, Vereine, aber auch jeden Einzelnen auf, am Kampf gegen Antisemitismus mitzuwirken. Beatrice Loeb wünscht sich von der Politik mehr Regulierung im Netz und setzt weiter auf Dialog: "In meiner Arbeit für die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit erlebe ich zum Glück, dass es auch anders geht. Das gibt Kraft."

Verwendete Quellen:

Teaserbild: © picture alliance/dpa/Bernd von Jutrczenka