Friedrich Merz ist bei seiner Wahl zum Bundeskanzler im ersten Wahlgang gescheitert. Erst im zweiten Anlauf bekam er die erforderliche Mehrheit von 316 Stimmen zusammen, zunächst hatten nur 310 Abgeordnete für ihn gestimmt. Politikwissenschaftler Torsten Oppelland ordnet ein, wie angeschlagen Merz durch das Scheitern ist, wie sehr die AfD davon profitiert – und in welchem Fall das Scheitern als großes Vorzeichen gelten wird.
Herr Oppelland, was war Ihre Reaktion, als Sie gestern gehört haben, dass
Torsten Oppelland: Da habe ich natürlich überhaupt nicht damit gerechnet, das hat sicherlich kaum jemand. Denn die Mehrheit der Koalition ist zwar nicht komfortabel, aber doch deutlich ausreichend. Mein erster Gedanke war: Der Heide-Mörder ist wieder unterwegs.
Sie spielen auf Heide Simonis an – nach der Landtagswahl 2005 verhinderte ein anonymer Abgeordneter ihre Wiederwahl als Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein. Am Ende hat sie ihre Kandidatur zurückgezogen.
Genau, auf Landesebene ist all das ja schon manchmal vorgekommen, nur auf Bundesebene nicht. Da hatte ich dann schon im Hinterkopf: Es könnte eng werden für den zweiten Wahlgang. Nun war es eher ein relativ unproblematischer Denkzettel von einigen Abgeordneten. Das Potenzial für eine Krise war aber da.
Wenn Sie von "Denkzettel" sprechen, hat sich also keine institutionelle Schwäche gezeigt?
Nein, eine institutionelle Schwäche haben wir sicherlich nicht. Es gab genau vorgesehene Abläufe und Verfahren. Selbst ein dritter Wahlgang wäre möglich gewesen. Das regeln das Grundgesetz und die Geschäftsordnung des Bundestages, um gerade eine institutionelle Schwäche zu vermeiden. Unsere Verfahren funktionieren, das hat sich eindrucksvoll gezeigt. Wenn jetzt im nächsten halben Jahr gut regiert wird und die Leute das Gefühl haben, es geht voran, wird das Scheitern im ersten Wahlgang sehr schnell vergessen sein.
Wie schwer ist Merz denn politisch angeschlagen?
Ich glaube nicht, dass der Vorgang große Auswirkungen hat – solange die Koalition sich nicht als arbeits- und kooperationsunfähig herausstellt und die 18 Abweichler jetzt nicht bei jeder Abstimmung die Mehrheit kosten. Aber darauf deutet es nicht hin. Der zweite Wahlgang hat ja gezeigt, dass es durchaus gelingt, die Leute, die im ersten Wahlgang ihren Unmut deutlich gemacht haben, wieder einzufangen.
Für Merz war es aber nicht das erste Mal, dass er gescheitert ist. Man denke an den Machtkampf um den Fraktionsvorsitz 2002 oder die Niederlage bei der Wahl des CDU-Vorsitzes 2018 ...
Man kann die Ereignisse positiv wie negativ interpretieren: Entweder als Durchhaltevermögen und damit als Qualität, oder man kann sagen: Merz ist nicht der große Integrator – anders als Merkel es gewesen ist. Merz ist in vielerlei Hinsicht das Gegenmodell zu Merkel und das wirkt sich auch in der Art und Weise aus.
Es hängt also nun von der Performance der Koalition ab. Ist denn zu erwarten, dass die 18 Abgeordneten wieder ausscheren?
Das ist spekulativ, denn wir kennen die Ursachen ja nicht. Wir wissen nicht, wer im ersten Wahlgang gegen Merz gestimmt hat und kennen die Motive nicht. Die Wahl ist geheim und es stehen mehrere Hypothesen im Raum. Vielleicht haben SPDler die Zustimmung verweigert, vielleicht hatten sich aber auch Einzelne bei der CDU für die Regierungsbildung mehr ausgerechnet. Die Nein-Stimmen können sich auch auf beide Fraktionen verteilen.
Wann kommt der erste Härtetest für die Handlungsfähigkeit der Koalition?
Es gibt einige Punkte im Koalitionsvertrag, wo Dinge noch ein bisschen in der Schwebe gelassen wurden. Das betrifft zum Beispiel die Migrationspolitik. Aber man darf nicht vergessen: Vieles können Regierungen auch auf dem Verordnungswege lösen, ohne Gesetzesänderungen. Der eigentliche Schwur, wo jede Koalition zeigen muss, was sie taugt, ist der Haushalt. Das steht jetzt noch nicht unmittelbar bevor, aber im Laufe des Jahres wird das die eigentliche Nagelprobe.
Während gestern Bilder von einem stirnrunzelnden Scholz und einem gefassten Friedrich Merz durch die Medien gegangen sind, sah man die AfD feixend. Profitiert sie von der Situation?
Die AfD ist aktuell gar nicht in so einer tollen Situation. Durch die Einstufung des Verfassungsschutzes als rechtsextrem befindet sie sich in der Defensive. Außerdem: Sie hat erhebliche Stimmengewinne bei der Bundestagswahl erzielt, kann aber trotzdem kaum etwas bewirken. Sie ist in der Opposition isoliert und stand bei den Koalitionsverhandlungen von Anfang an außerhalb des Spielfeldes.
So wird es auch weitergehen?
Ja, so wird es während der Legislaturperiode weitergehen – die AfD kann die Dinge nicht beeinflussen. Sie kann sie nur von außen kritisieren. Ich bezweifle, dass ihr die Blamage für die Koalition viel nutzen wird. Es stehen zeitnah keine Wahlen auf Bundesebene an.
Die Vorgänge lassen die "Eisscholle der demokratischen Mitte" also nicht weiter schmelzen?
Das wird die AfD natürlich versuchen. Aber wohl ohne große Auswirkungen. Die Koalition hatte ihre erste Krise und die Institutionen haben funktioniert. Jetzt muss sie sich bewähren.
Was, wenn nicht? Was passiert, wenn wir Streitigkeiten wie bei der Ampel erleben?
Dann wird man in der Rückschau das Scheitern im ersten Wahlgang als das große Vorzeichen betrachten. Dann wird es das Menetekel an der Wand sein, das von Anfang an gezeigt hat, dass diese Koalition nicht funktioniert. Aber das ist jetzt noch überhaupt nicht ausgemacht.
Über den Gesprächspartner
- Prof. Dr. Torsten Oppelland leitet den Arbeitsbereich Vergleichende Regierungslehre an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Parteien und Fraktionen auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene.