Von "gefährdet" zu "invasiv": Ein unscheinbares Insekt, das noch immer auf der Roten Liste steht, hat sich rasant ausgebreitet und zu einer ernsten Bedrohung für heimische Lebensmittel entwickelt. Was macht die Schilf-Glasflügelzikade so gefährlich?
Lange Zeit kannten bestenfalls ein paar Taxonomen die Schilf-Glasflügelzikade (Pentastiridius leporinus). Man wusste lediglich, dass sie an Schilfrohr vorkommt. "Wir wissen gar nicht, wie sich das Insekt in freier Wildbahn entwickelt", sagt auch der Entomologe Jürgen Gross vom Julius-Kühn-Institut für Pflanzenschutz im Obst- und Weinbau in Dossenheim (JKI).
Was man weiß: Ende der Nullerjahre ist das Insekt vom Ufer auf den Acker umgezogen und sich die Zuckerrübe als neue Wirtspflanze gesucht, sagt Gross: "Dort hat sie sich massiv verbreitet." Das Insekt stehe immer noch auf der Roten Liste der bedrohten Arten, so Gross weiter. Dabei ist das Insekt inzwischen alles andere als selten.
Das eigentliche Problem ist aber nicht das Insekt selbst: Die Schilf-Glasflügelzikade überträgt zwei Erreger von Pflanzenkrankheiten: Candidatus Arsenophonus phytopathogenicus und Candidatus Phytoplasma solani lösen bei Zuckerrüben das Syndrome Basse Richesse (SBR) aus: Die Rüben produzieren dadurch weniger Zucker und bekommen die Konsistenz von Gummi. Das erschwert die Ernte und die Rüben schimmeln schneller.
Gummikartoffeln und braune Chips
SBR trat zum ersten Mal in den 1990er-Jahren im Burgund in Frankreich auf. Die Landwirte stellten den Zuckerrübenanbau in der Region daraufhin innerhalb weniger Jahren ein. Die Zuckerfabriken schlossen. Die Krankheit verschwand. Erst 2008 tauchte sie wieder auf, im Raum Heilbronn und damit in Deutschland.
Candidatus Phytoplasma solani gilt außerdem als Erreger der Stolbur-Krankheit. "Diese Krankheit trifft Kartoffeln, wir kennen sie aus Südosteuropa schon seit den 1950er-Jahren", sagt Gross. Anders als bei den Rüben steigt in den Knollen der Zuckergehalt. Beim Frittieren färben sich die Kartoffeln deshalb braun. Das mache die Ernte im Prinzip wertlos, sagt Jürgen Gross: "Fleckige Chips oder Pommes sind nicht vermarktbar." Grundsätzlich könnten "Gummikartoffeln" aber bedenkenlos verzehrt werden, teilt das Bundeslandwirtschaftsministerium mit.
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Inzwischen sind in Deutschland allein 85.000 Hektar Zuckerrüben in allen Bundesländern außer Schleswig-Holstein befallen. Am stärksten betroffen sind Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen-Anhalt und Sachsen. Bei der Kartoffel waren im Jahr 2024 Äcker von insgesamt 22.000 Hektar infiziert. In Hessen werde der Anbau von Saatkartoffeln in diesem Jahr voraussichtlich eingestellt, fügt Jürgen Gross hinzu.
Und das Trio aus Zikade und Bakterien ist offensichtlich noch nicht am Ende. Sie hat weitere Wirtspflanzen für sich entdeckt: Zwiebel, Möhre und Rote Bete.
" Die Glasflügelzikade ist eine ernste Bedrohung für unsere Landwirtschaft und für gute Ernten."
"Die Schilf-Glasflügelzikade ist die größte pflanzenbauliche Herausforderung, der wir uns in den nächsten Jahren stellen müssen", zitiert der Branchenverband Wirtschaftliche Vereinigung Zucker (WVZ) seinen Vorsitzenden Stefan Streng Anfang April in einer Pressemitteilung. Und warnt: "Ohne eine langfristige Eindämmung ist die Versorgung mit heimischen Lebensmitteln gefährdet."
Auch der damalige Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft,
Kein Problem mit dem Winter
Die Schilf-Glasflügelzikade zu bekämpfen, ist schwierig. Ein Problem dabei: Ihre Nymphen leben im Boden. Sie übertragen die Erreger, wenn sie an den Wurzeln der Feldfrüchte saugen. Nach der Ernte bleiben die Nymphen im Ackerboden.
Die Landwirte helfen ihnen unfreiwillig beim Überwintern, denn sie säen nach der Rübenernte oft Winterweizen. Die jungen Weizenpflanzen dringen mit ihren Wurzeln bis zum Ende der Vegetationsperiode, also dem Winteranfang, einen halben Meter tief in die Erde ein. Dort können die Zikaden-Nymphen selbst großer Kälte ausweichen, an den Weizenwurzeln saugen und sich zu Ende entwickeln.

Wenn es im Frühjahr wärmer wird, kriechen die Nymphen in die oberste Bodenschicht. Nach der letzten Häutung kommen die Insekten wieder an die Oberfläche und paaren sich. "Im Frühsommer fliegen sie aus den Weizenfeldern in die nächsten Zuckerrüben- oder Kartoffelfelder", beschreibt Jürgen Gross den letzten Schritt.
Mit dem Winter kommen die Zikaden als heimische Insekten also leicht zurecht. Aber auch sie profitieren vom Klimawandel. Eigentlich bilden sie lediglich eine Generation pro Jahr. Wenn die Sommer aber wärmer werden, wachsen die Tiere schneller. Dann kann es passieren, dass die Zikaden sogar zwei Generationen bilden, sich also viel stärker vermehren. Es gebe Anzeichen dafür, dass das im Jahr 2022 bereits einmal vorgekommen ist, erklärt der Biologe. Auch Trockenheit helfe den Zikaden: "Wenn der Boden trocken und rissig ist, bekommen die Zikaden viel Luft und die Eiablage ist einfacher."
Gift, Vibrationen und Pflug
Insektizide fehlten bislang, sagt Jürgen Gross, das Problem mit den Zikaden sei noch zu jung. Ein Gift muss für den Einsatz gegen jedes einzelne Insekt zugelassen werden. Das dauert. Anfang April hat das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) für eine Reihe von Substanzen eine Notfallzulassung für die Nutzung im Zuckerrüben- und Kartoffelanbau erteilt. Im Mai weitete das BVL die Notfallzulassung auch auf Möhren, Rote Bete, Blumen- und Kopfkohlarten aus.
"Für den Übergang ist das vernünftig, damit die Bauern nicht ihre Existenzgrundlage verlieren", sagt der Forscher. Allerdings sei ein Tier, das unterirdisch saugt, nur schwer mit Insektiziden zu bekämpfen. "Man muss die adulten Zikaden beim Einfliegen erwischen."
Wegen dieser Probleme läuft die Suche nach alternativen Bekämpfungsmethoden auf Hochtouren. Ein Ansatz: Die Zikaden verständigen sich über Vibrationen. Ein Forschungsprojekt am Julius-Kühn-Institut untersucht, wie man diese Gesänge und damit die Paarung stören könne, sagt der Biologe. Eine andere Möglichkeit ist, die Fruchtfolge zu verändern, also statt Winterweizen eine Pflanze zu säen, die das Insekt zwar anziehend findet, an der die Nymphen aber sterben. Oder den Acker dann zu pflügen, wenn die Zikaden in den obersten Schichten aktiv sind.
Suche nach resistenten Sorten
Saatguthersteller versuchten deshalb, resistente Rüben und Kartoffeln zu entwickeln, sagt Kerstin Krüger, die bei der Firma KWS in Einbeck die Pflanzenpathologie leitet. Sie untersucht die vorhandenen Sorten, aber auch Wildarten: "Wir schauen, welche Pflanzen vielversprechende genetische Variationen oder Resistenzen zeigen." Die können dann in existierende Sorten eingekreuzt werden.
Außerdem habe ihr Unternehmen eine Zikadenzucht aufgebaut, um Versuche machen zu können. Monitoring-Programme sollen weitere Einblicke in die Verbreitung und die Aktivität der Zikade und der Erreger bringen. Die Erforschung der Bakterien wird dadurch erschwert, dass sie sich bislang nicht im Labor kultivieren lassen.
Neue Gemüsesorten zu züchten, könne leicht zehn Jahre dauern, sagt Jürgen Gross. Darum plädiert er dafür, die Genschere Crispr/Cas auch in der Pflanzenzucht zuzulassen. Diese Technik erlaube es viel schneller, Gene von einer Rübensorte in eine andere zu kopieren. "Dabei entstehen nicht einmal transgene Pflanzen, darum sollte man davor keine Angst haben", sagt der Forscher. "Gerade, wenn wir auf neue Schadorganismen reagieren müssen, müssen wir schnell reagieren können."
Über den Gesprächspartner
- Jürgen Gross leitet das Julius-Kühn-Institut für Pflanzenschutz im Obst- und Weinbau in Dossenheim (JKI) und lehrt biotechnischen Pflanzenschutz an der Hochschule Geisenheim. Das JKI ist eine nachgeordnete Behörde des Bundeslandwirtschaftsministeriums (BMEL).
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Verwendete Quellen
- zuckerverbaende.de: Zikade gefährdet Zuckerrübenanbau
- Bundesministerium für Landwirtschaft, Ernährung und Heimat: Bundesminister Özdemir zur Notfallzulassung von Pflanzenschutzmitteln gegen die Glasflügelzikade
- Informationsdienst Wissenschaft: Wieder Notfallzulassung gegen Schilf-Glasflügelzikade
- BVL: BVL ermöglicht Bekämpfung von Glasflügelzikaden als Überträger bakterieller Krankheitserreger im Gemüseanbau
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