Sie betrifft Millionen – bleibt aber oft unsichtbar: Altersarmut ist längst kein Randphänomen mehr, sondern Ausdruck einer sozialen Schieflage unserer Gesellschaft. Wer im Alter aufstocken muss, Flaschen sammelt oder auf Unterstützung angewiesen ist, erlebt oft einen stillen Verlust von Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Teilhabe. Ein Blick auf die strukturellen Ursachen und den gesellschaftlichen Stellenwert des Alters.
Es ist ein grauer Vormittag, der Regen in dem kleinen oberbayerischen Dorf hängt schwer in der Luft. Die 72 Quadratmeter große Wohnung der Mayers (Name von der Redaktion geändert) wirkt wie eine Zeitkapsel. Auf dem Wohnzimmertisch liegt ein Häkeldeckchen, darauf eine Porzellanvase mit Kunstblumen. In der rustikalen Vitrine aus dunklem Holz stehen sorgfältig arrangierte Souvenirs und kleine Figuren aus verschiedenen Lebensjahrzehnten. Familienfotos, alte Landschaftsbilder und gestickte Sinnsprüche schmücken die Wände – ein Interieur, das Wärme ausstrahlt und vom Leben erzählt. Ein Zuhause, das geblieben ist, während vieles andere verloren ging.
Frau Mayer (80) serviert frisch gebrühten Kaffee. Ihre Hände zittern leicht, die Stimme klingt brüchig, die Augen wirken müde und traurig. Man spürt: Sie hält durch, aber es kostet Kraft. Ihr Mann (81) sitzt bereits am Esstisch, die Zeitung ordentlich gefaltet vor sich. Als sie sich zu ihm setzt, sieht er sie an – ein Blick voller Liebe, Mitgefühl aber auch leiser Verzweiflung. Hinter ihm hängt ein Holzschild mit der Aufschrift: "Gott liebt euch". Über dem Sofa prangt in geschwungener Schrift: "Das Leben ist schön zu zweit". Seit ihrer Hochzeit begleitet dieser Satz ihr Leben. Doch das Leben war nicht immer schön. Es war oft hart, voller Sorgen, Rückschläge und Entbehrungen. Trotzdem blieb die Hoffnung. Und auch heute, da alles noch schwerer geworden ist, klammern sich die beiden an diesen Spruch – ein letzter Halt.
Finanzielles Fiasko
Drei Jahrzehnte lang führten Herr und Frau Mayer gemeinsam ein kleines Schreibwarengeschäft. Herr Mayer war insgesamt 48 Jahre berufstätig. Während Frau Mayer während ihres gesamten Erwerbslebens Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtete, stellte Herr Mayer nach seinem Wechsel in die Selbstständigkeit die Beitragszahlungen ein. Beide trafen daher private Vorsorgemaßnahmen – wie sie annahmen. Ein Finanzdienstleister versprach sichere Altersvorsorge. Sie investierten in einen geschlossenen Immobilienfonds. Was als kluge Entscheidung erschien, wurde zum finanziellen Fiasko. Die versprochene Rendite blieb aus, stattdessen verloren sie einen Großteil ihres Ersparten. Ein Teil des Geldes – circa 45.000 Euro – existiert zwar noch, ist aber bis heute eingefroren. Blockiert durch laufende Gerichtsverfahren. "Wir haben getan, was man uns geraten hat", sagt Herr Mayer. "Wir haben vertraut."
Heute leben sie von der Grundsicherung im Alter. Als sie den Antrag stellten, empfahl man ihnen, ihr Auto zu verkaufen – das auf dem Land oft die einzige Möglichkeit ist, zum Arzt oder zum Supermarkt zu gelangen. Auch ihre Wohnung, so hieß es, sei zu groß. Drei Zimmer für zwei Personen seien nicht notwendig. Doch kleinere Wohnungen sind oft teurer und mit Mitte 70 noch einmal das Zuhause aufgeben? Nachbarn verlassen, das Vertraute hinter sich lassen? Undenkbar.
Ein unverschuldeter Verkehrsunfall brachte weitere Belastungen. Das Auto hatte Totalschaden. Ein neues musste für 5.000 Euro angeschafft werden. Nur Dank einer Spende einer Bekannten und der Zuwendung durch ein Stiftung war das möglich. Zudem benötigt Frau Mayer seitdem ein Hörgerät. Die Krankenkasse übernahm jedoch nur einen Teil der Kosten, 1.500 Euro. 3.000 Euro zahlten die Mayers aus eigener Tasche. Geld, das sie gar nicht haben. Eine prominente Münchnerin, die sich seit Jahren für Bedürftige einsetzt, vermittelt nun finanzielle Unterstützung. Und sie ermöglicht dem Paar auch ein paar Tage Urlaub. "Einmal raus aus der Tristesse", sagt Frau Mayer leise. "Einmal nicht ständig an das eigene Schicksal denken müssen. Einmal nicht rechnen."
Etwa 2.300 Euro stehen den beiden monatlich zur Verfügung. In vielen Regionen Deutschlands wäre das ausreichend. Doch im Münchner Umland, wo die Mieten hoch und die Lebenshaltungskosten überdurchschnittlich sind, reicht dieses Einkommen kaum für ein Leben in Würde. Der wöchentliche Einkauf wird zur Rechenaufgabe, spontane Arzttermine zur logistischen Hürde, soziale Teilhabe, mal gemeinsam essen zu gehen wird zum Luxus. Und mit jedem Jahr, das vergeht, wächst die Sorge: Was, wenn noch etwas passiert?
Wer ist besonders von Altersarmut betroffen?
- Frauen: Aufgrund von Erwerbsunterbrechungen, Teilzeitarbeit und geringeren Löhnen während des Erwerbslebens.
- Langzeitarbeitslose: Fehlende Beitragszahlungen führen zu niedrigen Rentenansprüchen.
- Geringfügig Beschäftigte und Solo-Selbstständige: Aus unregelmäßigen oder niedrigen Einkommen resultieren geringe Rentenbeiträge.
- Menschen mit Migrationshintergrund: Verspätete Erwerbsbiografien und mögliche Diskriminierungen am Arbeitsmarkt beeinflussen die Rentenhöhe negativ.
- Ostdeutsche Rentnerinnen: Viele konnten durch hohe Arbeitslosigkeit in den 1990er/2000er-Jahren keine stabilen Rentenansprüche aufbauen.
Ein strukturelles Problem
Die Geschichte der Mayers steht für ein wachsendes gesellschaftliches Problem. Altersarmut betrifft heute fast 20 Prozent aller Menschen über 64, in Großstädten wie München noch deutlich mehr. Und sie nimmt weiter zu. Trotzdem bleibt sie oft unbeachtet.
"Junge Menschen können durch Bildung oder Arbeit hoffen, der Armut zu entkommen. Im Alter fehlt diese Perspektive."
Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge weist im Gespräch mit unserer Redaktion darauf hin, dass Altersarmut besonders durch ihre Ausweglosigkeit geprägt sei: "Junge Menschen können durch Bildung oder Arbeit hoffen, der Armut zu entkommen. Im Alter fehlt diese Perspektive. Wer eine zu niedrige Rente hat, kommt aus der Armutsfalle nicht mehr heraus. Das führt zu Resignation, Rückzug und psychischer Belastung."
Zudem bleibe Altersarmut häufig unsichtbar, weil man sie den Menschen nicht unbedingt ansehe. "Es gibt Frauen, die sehr gepflegt wirken und trotzdem in Mülleimern nach Pfandflaschen suchen. Armut ist still, weil schambesetzt. Viele Betroffene verbergen ihre Lage. Wer will in einer leistungsorientierten Gesellschaft schon als arm gelten? Niemand soll etwas mitbekommen. Denn das Stigma ist groß."
Das gesellschaftliche Bild vom Alter habe sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verändert. "Früher galten alte Menschen als weise, als würdig", so Butterwegge. Heute sei es eher so: "Wer nichts mehr leistet, ist nichts mehr wert." Diese Sichtweise habe der Neoliberalismus tief im kollektiven Bewusstsein verankert und werde kaum noch hinterfragt.
In den vergangenen Jahren habe die private Vorsorge zunehmend an Bedeutung gewonnen. Dies erwecke den Eindruck, so Butterwegge, dass ältere Menschen selbst für ihre finanzielle Absicherung verantwortlich seien. "Wer arm ist, ist demnach selbst schuld. Früher galten arme Ältere als würdige Arme. Heute besteht die Gefahr, dass sie zu unwürdigen Armen erklärt werden."
Gerade die Nachkriegsgeneration sei in besonderer Weise betroffen. Diese Menschen hätten das Land wieder aufgebaut und wollten ihren Angehörigen oder dem Staat nicht zur Last fallen. Genau darin sieht Butterwegge ein zentrales Merkmal der Altersarmut: "Altersarmut bedeutet nicht nur materielle Entbehrung, sondern auch Demütigung. Viele fühlen sich um ihr Lebenswerk betrogen, weil die Rente ihre Arbeit nicht würdigt. Das hinterlässt Spuren."
Lesen Sie auch
Obwohl Altersarmut wächst, werde sie kaum als zentrales Thema behandelt, sagt Butterwegge. Es fehle an einer starken Lobby, weil alte Menschen keinen wirtschaftlichen Einfluss mehr hätten. Hinzu kämen Stolz und Scham. Zwei Drittel der Menschen, die Anspruch auf Grundsicherung hätten, stellen keinen Antrag. Sie schämen sich, empfinden staatliche Hilfe als Niederlage. An den Tafeln, die in Anspruch zu nehmen auch Überwindung koste, sei inzwischen ein Drittel der "Kundschaft" im Rentenalter.
Dass Altersarmut überhaupt so stark wachsen konnte, ist das Ergebnis politischer (Fehl-)Entscheidungen. Mit der Riester-Reform etwa wurden Geringverdiener zur privaten Vorsorge ermutigt – doch wer wenig verdient, kann nicht vorsorgen. "Genau die hat man im Regen stehen lassen", kritisiert Butterwegge. Hinzu kommt: Das Rentenniveau wurde schrittweise abgesenkt – von über 60 Prozent auf heute 48 Prozent, mit gesetzlicher Option auf 43. Gleichzeitig wurden prekäre Beschäftigungsformen wie Mini- und Midi-Jobs, Leiharbeit und befristete Verträge ausgeweitet.
Was sich ändern muss
Butterwegge fordert eine grundlegende Reform. "Alle müssen einzahlen: Selbstständige, Freiberufler, Beamte, Abgeordnete und Minister. Und die Beitragsbemessungsgrenze muss auf- oder stark angehoben werden." Wer monatlich über 8.050 Euro brutto verdient, zahlt derzeit ebenso wie sein Arbeitgeber keine Beiträge auf das, was darüber hinausgeht. "Genau dort, wo echte Solidarität beginnen könnte, endet sie."
Der Politikwissenschaftler warnt vor einem Generationenkonflikt. "Nicht Jung gegen Alt ist das Problem – sondern Arm gegen Reich." Der demografische Wandel werde nicht automatisch zu mehr Gerechtigkeit führen. "Die alten Menschen haben wenig Einfluss, da sie nicht mehr im Geschäftsleben stehen. Die politischen Entscheider folgen nicht der Mehrheit, sondern den Lobbyisten und wirtschaftlich Mächtigen."
Während die Politik noch über Lösungen diskutiert, leben Menschen wie die Mayers längst mit den Folgen früher getroffener Entscheidungen. Ihr Alltag bleibt mühsam, auch nach dem kurzen Urlaub. Doch für einen Moment war das Leben wieder leicht – ein Moment der Würde. Doch der Blick auf die Mayers führt zu unbequemen Fragen: Wie gehen wir mit den Schwächeren um? Was ist ein Leben in Würde – und wer darf es führen?
Altersarmut in Zahlen
- 19,6 Prozent der über 64-Jährigen in Deutschland gelten laut Statistik als armutsgefährdet – in München liegt der Anteil noch deutlich höher.
- Altersarmut ist weiblich: ´Bei Frauen ab 65 beträgt die Armutsrisikoquote 21,6 Prozent, bei Männern 17,0 Prozent. Ab 75 Jahren steigt die Quote bei Frauen auf 21,8 Prozent, bei Männern sinkt sie auf 15,4 Prozent.
- Etwa zwei Drittel der Anspruchsberechtigten stellen keinen Antrag auf Grundsicherung – aus Scham, Unkenntnis oder Angst vor einer möglichen Regresspflicht der Kinder.
- Die Riester-Reform ging mit einer Senkung des Rentenversicherungsbeitrags von 20,3 Prozent auf 18,6 Prozent einher.
- Die Durchschnittsrente in Deutschland lag 2023 bei etwa 1.550 Euro brutto pro Monat.
- Im Jahr 2023 lag die durchschnittliche Altersrente für Frauen insgesamt bei etwa 890 Euro pro Monat.
Über den Gesprächspartner
- Prof. Dr. Christoph Butterwegge ist Politikwissenschaftler und einer der renommiertesten Armutsforscher Deutschlands. Er war Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln und ist Autor zahlreicher Publikationen zur sozialen Ungleichheit, Rentenpolitik und Altersarmut. "Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung”; "Deutschland im Krisenmodus" ; "Umverteilung des Reichtums"
Verwendete Quellen
- Interview mit Prof. Dr. Christoph Butterwegge
- Gespräch mit Familie Mayer
- statista.com: Armutsgefährdungsquote von Senioren in Deutschland von 2020 bis 2024
- Bundeszentrale für politische Bildung: Ausgewählte Armutsgefährdungsquoten
- destatis.de: 1,9 % mehr Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Ende 2023
- statista.com: Anzahl der Empfänger von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Deutschland von 2003 bis 2023
- destatis.de: Mehr als ein Viertel der Rentnerinnen und Rentner haben ein monatliches Nettoeinkommen von unter 1 000 Euro
- statista.com: Durchschnittlicher Zahlbetrag der gesetzlichen Altersrenten in Deutschland von 1992 bis 2023 (in Euro/Monat) nach Geschlecht
- Deutsche Rentenversicherung: Warum die Zahl der Rentner in Grundsicherung gestiegen ist