Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst, die Welt wird immer ungerechter – so die weit verbreitete Annahme. Für Professor Daniel Waldenström ein Irrtum: Er sagt, das Gegenteil ist der Fall.
Die Zahl der Superreichen in Deutschland wächst – ebenso wie die der Armen. Das belegt eine Oxfam-Studie zur globalen Reichtumsverteilung. Und trotzdem sagt der Ökonom Daniel Waldenström, unsere Gesellschaft sei heute "in vielerlei Hinsicht gleichberechtigter" als früher.
Um diesen Widerspruch einzuordnen, war der Schwede vom Forschungsinstitut Stockholm an einem Nachmittag im April nach München gereist. Er war zur Veranstaltungsreihe "Munich Economic Debates" des ifo-Instituts (Institut für Wirtschaftsforschung) eingeladen worden.
Doch bevor er dort auf das Podium trat, nahm er sich Zeit für ein Gespräch mit unserer Redaktion. Er erklärte, warum vieles, was wir über soziale Ungleichheit lesen und hören, nicht stimme – und warum es keine gute Idee sei, das Geld der Superreichen "zu beschneiden", um mehr Gleichheit zu schaffen.
Herr Waldenström, was sind die häufigsten Missverständnisse über soziale Ungleichheit?
Daniel Waldenström: Viele Menschen glauben, dass soziale Ungleichheit ständig wächst, dass die Schere immer weiter auseinandergeht und alles immer schlimmer wird. Sie lesen viel negative Nachrichten, und das führt zu einem verzerrten Bild. Aber die Realität ist komplexer. Es ist nicht so, dass alles nur in die falsche Richtung geht. Tatsächlich sind wir heute in vielerlei Hinsicht gleichberechtigter als in der Vergangenheit.
Trotzdem geht aus einer aktuellen Oxfam-Studie hervor, dass die Reichen immer reicher werden und die Armen immer ärmer. Klingt nicht sonderlich positiv.
Es bringt wenig, sich zu wünschen, dass es den Superreichen immer schlechter geht. Denn das würde auch den Mittelschicht-Haushalten schaden. Viele Menschen aus der Mittelschicht sind heutzutage durch Aktienfonds oder Rentenversicherungen indirekt an großen Unternehmen wie BMW oder Bayer beteiligt. Wenn diese Firmen erfolgreich sind und ihre Aktien steigen, profitieren nicht nur die Superreichen, sondern auch ganz normale Menschen. Wirtschaftliches Wachstum und sinkende Ungleichheit gehen also Hand in Hand. Aktuell stagniert die Wirtschaft, weswegen die Ungleichheit auch nicht sinkt.
Welche weiteren Faktoren tragen Ihrer Meinung nach dazu bei, dass die Gesellschaft heute gleichberechtigter ist?
Selbstverständlich gibt es eine große Kluft zwischen Millionären und der Mittelklasse. Aber im Allgemeinen führen die meisten Menschen in Europa oder im westlichen Raum heute ein sehr gutes Leben: Sie haben beheizte Wohnungen, Zugang zu Wasser und Strom und ihre Kinder gehen zur Schule. Wohlstand bedeutet nicht nur finanzielles Vermögen, sondern auch, eine Arbeit zu haben, sich ernähren zu können, im Krankheitsfall medizinisch versorgt zu werden und im Alter eine Rente zu haben.
"Das meiste Geld für den Staat kommt von den Menschen, die arbeiten – also von den normalen Löhnen und Gehältern. Deshalb ist es entscheidend, dass wir eine starke Wirtschaft mit guten Arbeitsplätzen haben."
Wenn viele Menschen ein Eigenheim besitzen, verringert das ebenfalls die Ungleichheit, haben Sie einmal gesagt. In Deutschland ist die Eigenheimquote jedoch ziemlich niedrig. Ist das ein Problem?
Ja, das spielt schon eine Rolle. Immobilien werden über die Jahre immer mehr wert – wer ein Haus oder eine Wohnung besitzt, profitiert also automatisch vom Vermögenszuwachs. Das Problem ist: Viele Menschen mit normalen oder niedrigen Einkommen kommen gar nicht erst rein in den Immobilienmarkt und gehen damit leer aus. Wenn die Einkommen steigen, könnten sich langfristig mehr Leute Eigentum leisten – und das würde helfen, die Ungleichheit etwas auszugleichen. Denn wer mitverdient, wenn Werte steigen, kann auch Vermögen aufbauen.
Ist es realistisch, dass sich die Menschen in Zukunft ein Eigenheim leisten können? Die Preise für Eigenheime sind in Deutschland relativ hoch. Menschen mit einem normalen Einkommen können sich ein Haus oder eine Wohnung kaum leisten.
Das stimmt. Das ist ein großes Problem. Deswegen ist es entscheidend, wie Banken die Finanzierung gestalten. Wenn Banken ihre Kreditvergabeprozesse so anpassen, dass mehr Wohneigentum erwerben können, wäre das ein wichtiger Schritt.
Eine These von Ihnen lautet, dass das Vermögen der Superreichen nicht beschnitten werden sollte. Aber wenn Gleichheit vor allem durch einen starken Sozialstaat sichergestellt werden soll, woher soll dann das Geld für diesen kommen?
Das meiste Geld für den Staat kommt von den Menschen, die arbeiten – also von den normalen Löhnen und Gehältern. Deshalb ist es entscheidend, dass wir eine starke Wirtschaft mit guten Arbeitsplätzen haben. Diese Arbeitsplätze entstehen oft in großen Firmen, die manchmal im Besitz sehr reicher Familien sind. Aber genau diese Firmen bieten vielen Menschen Arbeit, und durch diese Arbeit fließt Einkommen, das wiederum Steuern generiert.
"Wichtig ist, die Balance zu halten: Neue Unternehmen wie zum Beispiel OpenAI müssen gefördert werden, um zu wachsen und innovativ zu sein. Gleichzeitig müssen wir darauf achten, dass auch die Ärmeren in der Gesellschaft unterstützt werden."
Aber könnte man nicht auch von den Superreichen einen größeren Beitrag erwarten, um für mehr Chancengleichheit zu sorgen?
Eine Möglichkeit wäre, Kapitalgewinne und Einkünfte aus Aktien stärker zu besteuern. Wenn eine Firma Gewinne erzielt, zahlt sie bereits Steuern darauf. Werden diese Gewinne an die Aktionäre ausgeschüttet, könnten auch diese Gelder erneut besteuert werden. Das mag nach einer "Doppelbesteuerung" klingen, ist aber sinnvoll, da so mehr Geld für das Gemeinwohl generiert werden kann. Der Gedanke dahinter ist: Unternehmen sollen weiterhin erfolgreich arbeiten und Arbeitsplätze schaffen, aber gleichzeitig sollen auch die großen Kapitalgewinne ihren fairen Beitrag leisten.
Wie sieht für Sie das ideale Steuersystem aus?
Viele europäische Länder haben bereits recht gute Steuersysteme. In Deutschland liegt die Steuerquote bei rund 40 % des BIP – ein historisch hoher Wert. Da sollten wir nicht noch weiter draufpacken. Wichtig ist, die Balance zu halten: Neue Unternehmen wie zum Beispiel OpenAI müssen gefördert werden, um zu wachsen und innovativ zu sein. Gleichzeitig müssen wir darauf achten, dass auch die Ärmeren in der Gesellschaft unterstützt werden.
Gehört das deutsche Steuersystem also Ihres Erachtens zu den Guten?
Natürlich gibt es auch Schwächen im deutschen Steuersystem. Ein Beispiel ist die gemeinsame Besteuerung von Ehepaaren – das benachteiligt oft Frauen und hält viele Mütter länger aus dem Job raus. Das wirkt heute ziemlich überholt. Ein weiteres Problem sind die vielen Abzüge im deutschen Steuersystem. Man kann zum Beispiel Ausgaben für Kinder, Arbeitswege, Berufskleidung oder Mitgliedschaften in bestimmten Vereinen absetzen. Diese Vielzahl an Abzügen führt dazu, dass viele Menschen viel Zeit damit verbringen, ihre Steuerlast zu optimieren, anstatt sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren.
Über den Gesprächspartner
- Daniel Waldenström ist Professor für Volkswirtschaftslehre am Forschungsinstitut in Stockholm und leitet dort das Forschungsprogramm "Steuern und Gesellschaft". Seine Forschungsschwerpunkte sind wirtschaftliche Ungleichheit, Vermögensverteilung, Besteuerung und Fiskalpolitik, insbesondere die Ursachen und Folgen von Einkommens- und Vermögensungleichheit sowie die Effekte verschiedener Steuersysteme.
Verwendete Quellen
- oxfam.de: Bericht zur sozialen Ungleichheit 2024